Das Buch von der Sterblichkeit
Walter Kappacher hat für seinen wundervollen Roman „Selina“ zwei Schutzengel angerufen, die mit je einem Motto wie Wächter vor dem Buch stehen und dem Leser seinen Weg in den Text weisen: Jean Paul und Adalbert Stifter. Wir schreiten aber erst einmal an den beiden Kustoden vorüber, grüßen nur stumm und berichten, worum es geht.
Es ist eine Geschichte aus dem österreichisch-italienischen Alltag der achtziger Jahre – die historische Umwelt ist fein, aber unmissverständlich markiert: Es gibt die Lira noch, und die Welt redet über die Waldheim-Affäre. Ein noch junger Lehrer aus dem Salzburger Land nimmt sich eine Auszeit und verbringt ein Vierteljahr auf einem verfallenden Bauernhof im toskanischen Pratomagno-Gebirge, historisch die Grenzscheide zwischen den Stadtrepubliken Florenz, Arezzo und San Sepolcro, geographisch die Wasserscheide zwischen Arno und Tiber, kulturgeschichtlich das Land Petrarcas und Piero della Francescas.
All das spielt hinein, aber was wir zunächst sehen, ist der Alltag dieses Mannes mit Namen Stefan, der die kaputte alte Kate, die ihm ihr deutscher Besitzer zur Benutzung überlassen hat, renoviert, wieder bewohnbar macht und die darumherum wuchernde Wildnis zurückschneidet. Bei diesem bodenständigen Tun kommt er in allerlei Kontakt mit den Bewohnern des nahen Dorfes – wer die Ortsnamen auf einer Landkarte sucht, findet alles –, er kommt herum im Land bis nach Arezzo, und so entsteht ein vollkommen nüchternes, vollkommen heutiges Bild italienischer Zivilisationsumwelt: Diese ist ja vielfach gar nicht „schön“ in einem harmonischen Sinn, sondern zerrissen zwischen hässlichen Industrie- oder Gewerbegebieten in den städtischen Peripherien und tiefer, archaischer Verlassenheit schon wenige Kilometer weiter, wegab hinter irgendeinem Hügel.
Der Deutsche, Heinrich mit Namen, ist todkrank, er lebt in Erwartung seines Endes vor allem mit Büchern, antiker Lebensphilosophie, humanistischer Dichtung, Jean Paul. Stefan hat nur sporadischen Kontakt mit ihm, doch am Ende, als Heinrich stirbt, lässt er sich von dessen Tochter Selina so beeindrucken, dass die Möglichkeit einer großen Liebe aufscheint – während Stefans bisherige Beziehungen, eine Partnerschaft daheim und ein kurzes, hitziges Abenteuer mit einer Dorfnachbarin, verblassen. Aber die Attraktion durch Selina bleibt wohl ebenso unerfüllt wie die vielen weltliterarischen Bücher ungelesen bleiben, in die Stefan immer wieder hineinblättert: als schöne Möglichkeiten. Dass Stefan unter seinen praktischen Beschäftigungen nicht dazu kommt, die Arbeit an einem Drehbuch voranzutreiben, die er sich für seinen Landaufenthalt vorgenommen hat, ist nur folgerichtig in einer Erzählung, die das Gegenständliche überaus deutlich zeigt, Gefühle und Gedanken aber wie zarte Schleier darumlegt.
Kappacher entwickelt seine undramatische Geschichte ganz aus dieser Gegenständlichkeit, und hier kommt der erste seiner beiden Schutzengel ins Spiel, Adalbert Stifter. Wenn der Erzähler eine Hausbank beschreibt, „die aus nichts bestand als einem dicken Brett an der Hausmauer, gehalten von zwei großen Felsbrocken. Das glattgesessene Brett sah aus, als seien darauf bereits vor hundert Jahren die Vorfahren der Marinis gesessen“, dann mag man sogar an einen direkten Bezug denken: an jenen abgewetzten Stein aus Stifters Novelle „Granit“, der dort zum Ausgangspunkt erinnernden Erzählens wird.
Wichtiger ist, dass Kappacher die feststellende, karge Manier des späten Stifter, dessen musivische Langsamkeit, die Einwickelung des Geschehens und des zeitlichen Fortgangs in statisches Benennen übernommen hat. Ganze Seiten bestehen aus Protokollsätzen: „Er trug den Klappstuhl die Treppe hinunter, suchte eine Stelle beim Tisch, wo er nicht wackelte. Der Platz vor dem Haus, der Schau-Platz. Vor ihm die gemähte Wiese mit dem Olivenhain; dahinter das abfallende Terrain; an einer Stelle führten unebene Stufen aus gewachsenem Fels hinunter zu einem weiten Feld, wo früher einmal Getreide angebaut worden war.“
Das ist nicht „poetisch“, doch Seite um Seite baut sich ein Bild von bukolischer Nüchternheit, von einem heutigen Italien auf, das zuweilen sogar einen vergilischen Zug bekommt, nämlich an den Vergil des Lehrgedichts zur Landwirtschaftskunst erinnert. Immer dichter wird die Landkarte des Buches, und seine Menschen – erst kaum mehr als Namen – bekommen immer mehr Konturen und Geschichten. Die soziale und psychologische Genauigkeit, mit der Kappacher sein Provinzitalien schildert, bedeutet, im Vorübergehen sei es gesagt, auch eine stille Revolution in der Geschichte der deutschen Italienliteratur. Und wie Stifter gelingt es Kappacher, seine Leser in ein eigenes Zeitmaß zu versetzen, sie mit meditativer Langsamkeit zu beglücken, mit einem Sprachrhythmus, der auf äußerliche Klangfülle verzichten kann, weil das Gesetz dieses Stils Durchsichtigkeit ist, ja etwas auch Moralisches: Reinheit.
Selina, die Tochter des gastfreien Heinrich, trägt den Namen einer Jean-Paul-Figur. Der unvollendete Konversationsroman „Selina“ war das letzte Werk dieses Dichters, eine metaphysische Spekulation über Unsterblichkeit oder „Vernichtglauben“, dargestellt als Austausch von Briefen und Abhandlungen zwischen zarten Seelen, die in einer Landschaft von heroischer Schönheit leben. Auch über Kappachers toskanischer Landschaft, der – trotz schöner Fernblicke und vieler meteorologischer Wandlungen – die Jean-Paulsche wetterhafte Dramatik durchaus fehlt , wölbt sich ein metaphysischer Himmel.
Jean Pauls inständiges Bestehen auf der Unsterblichkeit der Seele ist nur die Rückseite eines leichengrauen Nihilismus, einer kosmischen Todespanik, die vielleicht seine eigentümlichste dichterische Farbe darstellt. Kappachers Kunstleistung besteht darin, wie er diese Angst hinter die idyllische Gegenständlichkeit seiner Erzählung gelegt hat, ganz unaufdringlich, ohne Tamtam, aber mit ruhigem Nachdruck. Sein Stefan ist meist allein, allein mit sich, den Dingen, Steinen, Pflanzen, Geschirr, allein noch unter seinen neuen Nachbarn und ihrer fremden Sprache, die er erst erlernt.
Und er ist allein unter einem unermesslichen sommerlichen Sternenhimmel, den er mit unvermitteltem Schrecken anstarrt: „ . . . und plötzlich die Vorstellung des Nicht-mehr-Seins, der absoluten Vernichtung seiner selbst, der winzigen Zeitspanne eines Lebens und dann ewig schwarze Nacht“. Stefan wird nach diesem Moment des Schreckens erlöst durch einen nahen Lichtpunkt, das Scheinwerferlicht eines unhörbaren Autos, „immer wieder unsichtbar, wenn ein Wäldchen oder eine Wegbiegung den Wagen verdeckte“. Nur in so etwas besteht das bisschen Heimat, das überhaupt möglich ist.
Aus Alleinsein und Dingnähe, Fremdheit und Eingewöhnung entwickelt Kappacher sein Thema – ganz minimalistisch: Während wir von Holztischen, Wasserkanistern und Olivenbäumen lesen, schleicht sich das Gefühl ein für die Unwahrscheinlichkeit, dass überhaupt etwas existiert. Die Spannung des Textes bleibt erhalten, weil er seine metaphysischen Motive mit bewundernswertem Takt meist unter der Oberfläche hält.
Es geht ihnen dabei wie dem Autor Walter Kappacher. In ein paar Jahren wird er, der verborgen im Umland von Salzburg lebt, siebzig Jahre alt. Seit fast vierzig Jahren erscheint immer wieder ein Buch von ihm, und immer wieder erweckt er damit Bewunderung und Anerkennung – er wurde mit Preisen geehrt, Peter Handke hat ihn mit Nachdruck gerühmt, die Deutsche Akademie in Darmstadt hat ihn zu ihrem Mitglied gemacht. Aber an Walter Kappachers bislang nur hintergründiger Präsenz hat das wenig geändert. Er ist, so scheint es, zu taktvoll, um uns mit dem Ruhm zu behelligen, der ihm zusteht.
Gustav Seibt (SZ, 20.1.2006)
|